
Glenn Doman postulierte, dass jedes Kind lesen lernen kann – fast von den ersten Lebenstagen an. Genauer gesagt ab dem Zeitpunkt, wenn seine visuellen Bahnen so weit entwickelt sind, dass es ein gezeigtes Wort detailliert erkennen kann. Der zweite für das Lesenlernen notwendige Sinn – das Gehör – ist bei der Geburt bereits nahezu vollständig entwickelt und benötigt keine zusätzliche Stimulation. Ein Kind kommt mit der Fähigkeit zur Erlernung der gesprochenen Sprache zur Welt, sein Gehör ist somit auch für das Lesenlernen optimal vorbereitet.
Der Schlüssel liegt in der Lernmethode. Versuche, Säuglinge schulisch zu unterrichten, scheitern zwangsläufig. Das Gehirn eines Kleinkindes ist nicht in der Lage, geschriebene Wörter bewusst zu synthetisieren oder zu analysieren. Unbewusst jedoch gelingt dies perfekt – ähnlich wie beim Erwerb der gesprochenen Sprache.
Wie funktioniert das?
• Kinder müssen nicht explizit lernen, Laute oder Wörter zu isolieren. Sie hören von Geburt an Sätze und extrahieren daraus eigenständig Bedeutungen.
• Die rechte Gehirnhälfte, die vor dem sechsten Lebensjahr dominiert, analysiert ständig Sinneseindrücke, erkennt Muster und wendet Regeln kreativ an – ohne bewusste Steuerung.
• Dieser Prozess ermöglicht es Kindern, selbständig neue Wörter zu bilden und abstrakte Sprachregeln zu nutzen.
Praxisimplikationen:
• Frühes Lesenlernen erfolgt über ganze Wörter, nicht über Buchstaben oder Silben.
• Die natürliche Lernfähigkeit des kindlichen Gehirns wird genutzt, statt künstliche Übungen aufzuzwingen.
• Die Methode ähnelt dem Spracherwerb: Immersion statt Instruktion.
Die rechte Hemisphäre erweist sich dabei als Meisterin der impliziten Mustererkennung – eine Fähigkeit, die mit zunehmender Linkshemisphärendominanz (ab Schulalter) langsam nachlässt.
Jeder, der Kontakt mit zwei- bis dreijährigen Kindern hatte, ist auf das Phänomen der Hyperregularisierung gestoßen. Dabei wendet das Kind sprachliche Regeln rigidel an, ohne Ausnahmen zu berücksichtigen..
Und niemand hat ihm diese Regeln je explizit beigebracht! Das Kind hat sie vollständig eigenständig und unbewusst erlernt, indem es einfach genügend Beispiele hörte, um die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Diese bemerkenswerte Fähigkeit des kindlichen Gehirns, Muster intuitiv zu erfassen und anzuwenden, ist etwas, das wir Erwachsene nur bewundern können.
Die Doman-Methode nutzt genau denselben Mechanismus, um Kindern das Lesen beizubringen. Sie basiert darauf, Karten mit ganzen Wörtern zu zeigen – ohne Alphabet oder Rechtschreibregeln zu lehren. Der kindliche
Gehirnprozess wird aktiviert:
• Anfangsphase: Das Kind prägt sich das Aussehen von Wörtern ein – ähnlich wie es Gesichter oder Bilder in
Büchern speichert.
• Auditiv-visuelle Verknüpfung: Wird das gezeigte Wort gleichzeitig vorgelesen, verknüpft das Gehirn Schriftbild und Klang unwillkürlich mit dem realen Objekt oder der Handlung.
Doch die Methode geht über reines Gedächtnistraining hinaus. Kinder, die nach Doman unterrichtet werden, können nach einiger Zeit jedes unbekannte Wort lesen. Der Grund: Die rechte Gehirnhälfte internalisiert – wie beim Spracherwerb – die Regeln der Schriftsprache. Durch Hunderte von Beispielen erkennt das Gehirn Muster, die sogar über die bewusste Wissensvermittlung an Siebenjährige hinausgehen.
Beispielhaftes Verständnis:
• Das Gehirn erfasst nicht nur den Zusammenhang zwischen Buchstabe und Laut, sondern auch, wie dieser Laut in unterschiedlichen Buchstabenkombinationen variiert.
Praxisvorteile:
• Kinder, die nach Doman lesen lernen, können später problemlos Silbentrennung oder Laute analysieren –
Fähigkeiten, die in Schulen oft mühsam geübt werden.
• Silben werden als konkrete Bausteine („Stück Kuchen“) begriffen, nicht als abstrakte Mischung von Einzelelementen.
Die Methode vertraut auf die intuitive Fähigkeit des kindlichen Gehirns, Regeln aus Beispielen abzuleiten. Dies bestätigt: Das Gehirn eines Kindes ist oft effizienter als unser bewusstes Lehrsystem.